Torment: Tides of Numenera im Test – Pen and Paper-Feeling ganz ohne Stift und Papier.

Die Jungs und Mädels von inXile Entertainment haben bereits mit Wasteland 2 eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, den Geist alter Top-Down-Rollenspiele hervorragend einzufangen. Das freut Fans von Klassikern wie Baldur’s Gate und Neverwinter Nights und bietet zudem jüngeren Spielern die Gelegenheit, dieses meist doch etwas schwer zugängliche Genre in einem modernen Gewandt für sich zu entdecken. Mit Torment: Tides of Numenera präsentieren die fleißigen Entwickler aus Kalifornien nun ihr neustes Werk und versetzen Zocker älterer Semester in euphorische Schnappatmung, stellt der Titel doch den indirekten Nachfolger des legendären Planscape: Torment aus dem Jahre 1999 dar. Der letztgenannte Teil beeindruckte damals vor allem durch seine unglaubliche hohe Entscheidungsfreiheit, seine abgedrehte Welt voller merkwürdiger und skurriler Charaktere und hervorragend geschriebener Texte. Auch heute noch schwören viele, meist ü30-Zocker, auf diesen Titel zumal in den folgenden Jahren nur wenig Vergleichbares erschien. Kann Torment: Tides of Numenera diese jahrelang klaffende Lücke nun endlich schließen und zudem mit seinen eher traditionellen RPG-Mechaniken auch nach heutigen Gesichtspunkten noch überzeugen? Begeben wir uns auf eine Reise in die Welt von Tides of Numenera und finden es heraus.

Sprung ins Abenteuer

Zu Beginn des Abenteuers befindet sich unser namenloser Held im freien Fall. Dies erfahren wir jedoch nicht in einer schick animierten Zwischensequenz, sondern durch eine charismatische Erzählerstimme. Einige atmosphärische Hintergrundgeräusche wie pfeifender Wind untermalen die beschriebene Situation und erinnern in angenehmer Form mehr an ein Hörspiel, denn ein Videospiel. Wir haben keinerlei Erinnerungen an uns selbst, geschweige denn, wie wir überhaupt in diese äußerst missliche Lage geraten konnten. Der Erzähler fragt uns Zuhörer nun, was wir in dieser Situation tun wollen? Wollen wir uns erstmal umsehen? Wollen wir unseren Körper begutachten? Versuchen so etwas wie einen Boden zu erkennen? Wie würden wir reagieren oder besser gefragt, wie soll ich reagieren? Da ich mich noch nie in der Lage einer vom Himmel stürzenden Person mit Gedächtnisverlust befand, antworte ich intuitiv und wähle im Textfeld die Antwortmöglichkeit, mich erst einmal etwas umzusehen. Die Stimme erklärt mir, dass ich tatsächlich die Umrisse eines Kontinents erkennen kann und schon werden mir weitere Fragen über mein Vorgehen gestellt. Durch diese vergleichbar einfachen und inszenatorisch minimalistischen Stilmittel werde ich vom passiven Zuhörer aktiv ins Abenteuer mit einbezogen.

Nach einigen weiteren Entscheidungen erkennen wir eine Art Kuppel auf die wir ungebremst zurasen. Ist dies nun schon das vorzeitige Ende unseres Ausflugs oder erzählt uns die Stimme etwa gleich, dass alles nur ein böser Traum war? Mit dem Sturz endet die Erzählung abrupt und ich warte gespannt darauf, wie es nun weiter geht.

Psychogramm einer Hülle

Nach unserem Sturz erwachen wir in einem dunklen Raum, es tropft von der Decke und irgendwie wirkt die Umgebung befremdlich und unwirklich. Seltsame Monolithen tun sich vor uns auf, über schwarze Abgründe bilden schmale Brücken einen Pfad, dem wir folgen können. Wir berühren sphärenhafte Kugeln, die uns Erinnerungen von Fremden (!?) erzählen. Auch hier können wir wieder in den Verlauf der Erzählungen eingreifen. Wir können uns entscheiden, ob wir aggressiv, geschickt oder mit Intellekt vorgehen wollen. Erst später wird mir bewusst, dass ich mich gerade in einer Art Psychotest befinde, mit deren Hilfe ich die Attribute meines Charakters festlege. Vor einem Spiegel, in dem mich mehrere meiner Egos in verschiedenen Ausprägungen anstarren, kann ich mich entscheiden. Möchte ich eher ein kampferprobter Nahkämpfer sein, ein geschickter Dieb oder eine Art schlauer Magier? Wer sich auf keiner der drei Stereotype festlegen möchte, kann die drei Grundattribute Kraft, Geschwindigkeit und Intellekt im späteren Charakterbogen noch verändern. Wie es sich für komplexe Rollenspiele alter Schule gehört, ist hier natürlich noch lange nicht Schluss. Mit dem Charakter-Deskriptor können wir die Ausprägung unseres Helden weiter spezifizieren. Schlau, vorsichtig, intelligent, mutig, anmutig, jede Auswahl bietet individuelle Vor- und Nachteile. Doch damit noch nicht Schluss, Erkundungs- und Waffenfähigkeiten wollen auch noch ausgewählt und entsprechend geskillt werden. Ihr merkt sicher schon, ähnlich wie in Wasteland 2 bietet auch Tides of Numenera genügend Potential sich lang und ausgiebig mit der Erstellung unseres Helden zu beschäftigen. Diesmal haben die Entwickler jedoch dankenswerterweise daran gedacht, entsprechende Tutorial-Textboxen einzuführen, die alle Fähigkeiten genauer erklären und wofür sie im Spiel gut sind. Das hilft zwar, macht die Entscheidung aber trotzdem nicht einfacher. Kleiner Tipp, zu Beginn des Abenteuers erwies sich das von mir glücklicherweise gewählte Maschinenwissen als recht nützlich. Nachdem ich meinen Helden erstellt habe, beginnt das Abenteuer endlich richtig, doch schon die Zeit bis dahin habe ich viel getüftelt und Spaß gehabt.

Dem Glück auf die Sprünge Helfen

Kurz nach unserer Charaktererstellung treffen wir auf einen Geist, der uns erklärt, dass wir uns in unserem eigenem Traum befinden. Auf die Frage wer wir sind und wie wir hier hingekommen sind, weiß der Gute leider auch nicht, schließlich ist er ja auch nur die Projektion eines Teils unseres eigenen Unterbewusstseins. Es bleibt uns jedoch auch nicht viel Zeit, um über unsere Situation nachzudenken. Ein großes, schemenhaftes Tentakelwesen greift uns an und wir befinden uns im Tutorial für unseren ersten Kampf. Das Kampfsystem läuft in Runden ab, wir können entscheiden ob wir uns bewegen, angreifen oder mit Objekten interagieren wollen, selbst sprechen mit anderen Figuren ist je nach Umstand der Konfliktaustragungen möglich.

Für den Erfolg jeder Aktion, sowohl in Kämpfen, als auch Gesprächen oder Interaktionen mit der Umwelt, wird der Grundwert unserer drei Grundattribute (Kraft, Geschwindigkeit, Intellekt) einberechnet. Je höher der Wert des Attributs, umso erfolgreicher ist die Wahrscheinlichkeit auf einen Erfolg. Kommt uns die Erfolgswahrscheinlichkeit zu niedrig vor, können wir uns zusätzlich „Anstrengen“. Haben wir beispielsweise einen Kraftwert von 5 und für die auszuführende Aktion nur eine Erfolgsquote von 50%, können wir aus unserem Kraftpool nochmals maximal fünf weitere Punkte investieren, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Investieren wir also 3 weitere Punkte, kann je nach Multiplikator aus einer fünfzigprozentigen eine achtzigprozentige Erfolgswahrscheinlichkeit werden. Danach sinkt jedoch unser Hauptwert von Kraft auf zwei Punkte, bis wir uns ausreichend ausgeruht haben. Natürlich gibt es auch Möglichkeiten, den Pool an Attributspunkten mit bestimmten Fähigkeiten zu erhöhen.

Bevor man auf den Pool zurückgreift, sollte man sich also immer fragen, ob eine einmalige Aussicht auf Erfolg, weitere wesentlich schwerer zu erreichende Erfolgsquoten rechtfertigt. So kompliziert und verschachtelt das alles auch zunächst klingen mag, nach etwas Einarbeitung in das System, weiß man die Fähigkeiten und vor allem die Möglichkeiten des Pool-Systems sehr zu schätzen.

Die Götter müssen verrückt sein

Nachdem wir das Tutorial in Form eines Traumes erfolgreich absolviert haben, wachen wir endlich in der echten Welt auf. Scheinbar haben wir bei unserem Aufprall im wahrsten Sinne mächtig Eindruck gemacht und die Kuppel beim Aufprall zerstört. Wir begegnen nicht unweit unserer Absturzstelle zwei sonderbaren Gestalten, die unserer Erscheinung am Himmel nachgeforscht haben. Die beiden erklären unserem Helden, dass er wohl die weggeworfene Hülle eines gewissen wandelnden Gottes seien könnten. Warum wir jedoch noch über ein eigenes Bewusstsein verfügen oder ob wir gar selbst der besagte Gott sein könnten, wissen die beiden auch nicht. Also entscheiden wir uns kurzerhand dazu, den Ursprung unserer Existenz zu ergründen und was es mit diesen offensichtlich verschwenderischen Gott auf sich hat.

Besonders lobend sei an dieser Stelle schon mal die Welt von Tides of Numenera erwähnt, die sich keinem Setting wirklich fest zuordnen lässt. Vieles erinnert an Fantasy, wobei es jedoch auch deutliche Anlehnungen an das Science-Fiction-Genre in Form von riesigen Maschinen und Computern gibt. Selbst Steampunk umschreibt die Welt nicht hundert Prozent akkurat. InXile Entertainment hat hier ein Setting geschaffen, dass sich mehr noch als andere Rollenspiele vom gängigen Fantasy und Scifi-Einerlei abhebt und Umgebungen und Levelarchitekturen bietet, die man so sonst eher bei Rollenspielen aus Fernost vermuten würde. Traumkonstrukte, mittelalterliche Märkte oder eine Stadt in Form eines riesigen Eigenweidemonsters, in dieser Welt scheint alles möglich.

Wer lesen kann…

Tides of Numenera ist sehr textlastig. Wenn ich an meine bisherige Spielzeit denke, habe ich die meiste Zeit des Spiels mit Lesen verbracht, denn egal ob Gespräche oder Interaktionen mit der Umwelt, alles wird in (meist) unvertonter Textform dargestellt. Das kann bisweilen schon etwas müßig sein, denn gerade zu Beginn des Spiels werden wir mit Fachwörtern und besonderen Eigenarten in dieser wirren Welt förmlich zugeschmissen. Schnelle kurzweilige Unterhaltung spielt sich wahrlich anders. Doch wer den Texten aufmerksam folgt und sich auf die Gespräche einlässt, wird über die Antwort und Entscheidungsmöglichkeiten, die selbst ein The Witcher 3 oder Fallout 4 in den Schatten stellen, wahrlich begeistert sein. Glücklicherweise ist Tides of Numenera im Gegensatz zu Wasteland 2 kein Lokalisationswaterloo geworden und liest sich auch in Deutsch weitestgehend fehlerfrei.

Fazit

Ihr wünscht euch das wohlige Gefühl alter Pen & Paper-Runden zurück, obwohl ihr nicht mehr genug Zeit dafür habt, euch regelmäßig in Rollenspielrunden zu treffen? Ihr scheut nicht vor einer anfangs ordentlichen Lernkurve zurück? Ihr könnt minutenlang am Bildschirm verbringen, ohne dass es groß „krachbum“ macht und einfach nur lesen? Wenn ihr diese Fragen eindeutig mit „Ja“ beantworten könnt, könnte Torment: Tides of Numenera genau euer Spiel sein. Auf technischer Seite gibt es bis auf gelegentliche leichte Ruckler bei schnellen Bewegungen nichts auszusetzen. Auch die Steuerung per Controller gestaltet sich angenehm komfortabel. Das ist vor allem nach der eher verunglückten Pad-Steuerung aus Wasteland 2 lobend zu erwähnen. Grafisch reißt das Spiel sicherlich keine Bäume aus, kann dafür aber mit seinen einfallsreichen und abwechslungsreichem Setting, welches genug Ideen für drei Spiele enthält, mehr als überzeugen.

Torment: Tides of Numenera
Grafik/Präsentation
80
Story/Atmosphäre
90
Gameplay
80
Spielspaß
92
Leserwertung0 Bewertungen
0
86