Echtzeitstrategie ist ein Genre, das seine Blütezeit in den 1990ern und 2000ern hatte. Doch auch heutzutage existiert immer noch eine Fangemeinde bemerkenswerten Umfangs für diese Art des Strategiespiels. Ein Potential, dass der Entwickler Pocketwatch nun mit einem etwas anderen Genrevertreter erschließen möchte.
Zu den Waffen, Nager!
Tooth And Tail ist im Kern immer noch das, was Command And Conquer oder Age Of Empires schon vor fast zwei Dekaden waren. Das Gameplay hat sich nie groß geändert, so arbeitet auch Tooth And Tail nach dem Prinzip „Basis bauen, Armee aufstellen und den Gegner komplett von der Karte radieren“. Der grundlegende Unterschied zu den Schwergewichten des Genres liegt aber darin, dass Tooth And Tail das Spielgeschehen simplifiziert und bis auf einige Basiszüge völlig von spielerischer Komplexität befreit – zumindest oberflächlich.
Doch der Reihe nach. Pocketwatch hat seinem neuen Titel nämlich eine Story verpasst, die so dermaßen skurril ist, dass sie wahrscheinlich in Jahren noch Gesprächsthema sein wird. In einer Fantasiewelt, die an die irdischen 1910er Jahre mit Russischer Revolution und drohendem Ersten Weltkrieg erinnert, ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Die Nahrung in der von vermenschlichten Tieren bevölkerten Welt ist knapp geworden, und so geht es um nicht weniger als die Frage, wer frisst und wer gefressen wird. Vier Fraktionen haben sich gebildet, die allesamt ihren Anspruch auf Herrschaft geltend machen und sich jeweils am oberen Ende der Nahrungskette sehen, namentlich Longcoats, Commonfolk, KSR und The Civilized. Um diese Ausgangslage herum wurde eine Einzelspielerkampagne mit 24 Missionen konzipiert, während dieser der Spieler alle vier Fraktionen steuert. Innerhalb dieser Kampagne wird die Story kontinuierlich weitergeführt, weswegen an dieser Stelle nichts weiter dazu verraten werden soll – nur so viel sei noch gesagt: Einen scharfen Sinn für schwarzen Humor sollte man mitbringen. Und wer den Orwellschen Klassiker “Farm der Tiere” gelesen hat, wird vielleicht die eine oder andere Parallele entdecken.
Dieses grundlegende Setting schlägt im Spiel jedenfalls voll durch. Ist man es aus Echtzeitstrategiespielen gewohnt, Soldaten (bzw. Roboter) über die Karte zu steuern, sind die Einheiten hier relativ durchgeknallt. Mit Revolvern bewaffnete Eichhörnchen (die auch noch laufend besoffen sind), Kamikaze-Ochsenfrösche, Füchse mit Scharfschützengewehr oder der Flammenwerfer schwingende Eber sind nur eine Kostprobe des abgedrehten Einheitenarsenals. Dachse, Wölfe, Tauben, Eidechsen oder auch Frettchen sind weitere Beispiele für diese Art Auftritt.
Echtzeitstrategie nackt
Angesprochene Einheiten unterscheiden sich natürlich spielerisch. Je nach Ausstattung sind sie Nahkämpfer, Fernkämpfer oder Flugeinheiten mit mehr oder weniger Durchschlagskraft. Die Klassifizierung ist also vom Prinzip her nicht viel anders als bei bisherigen Echtzeitspielen, allerdings sind hier Gemeinsamkeiten da auch schon bald erschöpft.
Pocketwatch hat Tooth And Tail so minimalistisch konzipiert, dass es gerade einmal die Grundzüge des Genres bietet und sich allen Ballasts enthält. Das Spiel läuft grundsätzlich nach folgendem Muster ab: Der Spieler startet mit seiner Kommandantenfigur an einer Mühle, um die herum schon einige Felder bewirtschaftet werden. Diese Felder generieren Nahrung, die zentrale Währung des Spiels. Sollte die eigene Armee zu groß werden oder die Felder nicht mehr genügend Nahrung liefern, können weitere Mühlen auf der Karte in Beschlag genommen und anhängende Felder erschlossen werden – es sei denn, sie wurden bereits ausgeschöpft. Einmal komplett ausgenommenes Land ist und bleibt unfruchtbar.
Angesprochene Kommandantenfigur wird vom Spieler direkt gesteuert, es gibt also nicht mehr diese gottgleiche Kreatur, die wie bei anderen Titeln über dem Schlachtfeld schwebt, ohne räumliche Einschränkungen Gebäude errichtet oder an beliebigen Stellen der Karte Einheiten steuert, befehligt oder umsetzt. Zwar lassen sich auch in Tooth And Tail Gebäude errichten, allerdings kann dies nur der Kommandant auf Knopfdruck. Der Spieler kann nur an dem Platz bauen, an dem er sich gerade aufhält.
Gebäude sind in Tooth And Tail gegrabene Unterschlupfe, je nachdem, welche Einheit ausgebildet wird. Also beispielsweise ein Fuchsbau oder Dachsbau. Oder auch Eichhörnchen oder Eber, da nimmt es der Titel mit der Biologie nicht ganz so genau. Die Baue produzieren selbständig Einheiten, der Spieler muss also nicht manuell für Nachschub sorgen. Per Knopfdruck ruft er die Einheiten zu sich. Entweder wird die Meute beauftragt, konkret zum Standpunkt des Spielers zu laufen oder das Umfeld des Spielers zu attackieren. Bewegt man also den Kommandanten über die Karte, um das Gelände zu erkunden, hat man immer einige Einheiten im Schlepptau.
Ziel der Missionen ist es nahezu immer, den Gegner vollumfänglich von der Karte zu putzen. Die ist relativ klein, so dass eine Runde in der Regel in ungefähr zehn Minuten beendet ist.
Das ist alles. Tooth And Tail ist bis auf den Kern nackte Echtzeitstrategie. Es gibt keine Technologiebäume, keine Updates für Gebäude oder Einheiten, es gibt keine Möglichkeit, Einheiten beliebig zu gruppieren, es gibt keine intelligenten Wegfindungsroutinen (auf Knopfdruck läuft dem Spieler ohnehin alles hinterher), es gibt noch nicht einmal einen spielerischen Unterschied zwischen den vier Fraktionen – die spielen sich haargenau gleich und verfügen alle über dieselben Einheitentypen. Klingt wie der blanke Horror für Coregamer – ist aber in Wirklichkeit ein erfrischender Ansatz, dem mittlerweile nur noch zuckenden Genre wieder neues Leben einzuhauchen.
Eine weitere Spezialität des Titels ist die Charakteristik der Missionskarten. Das Spiel erstellt jedes Mal eine prozedural generierte Karte nach dem Zufallsprinzip, so dass keine Runde der anderen gleicht. Das gilt sowohl für den Einzel- als auch den Mehrspielermodus. In der Solokampagne hat diese Besonderheit zur Folge, dass man sich an einer Mission ewig vergeblich die Zähne ausbeißt, sie im nächsten Versuch aber problemlos meistert, weil die Karte für den Spieler beim zweiten Versuch viel günstiger generiert war. Eine nur kleine technische Feinheit, die beim Gameplay aber voll durchschlägt. So erhält die Kampagne auch abseits der Story noch einen Anreiz, ein zweites Mal durchgezockt zu werden.
Spaß im Rudel
Grundsätzlich kann man aber die komplette Solokampagne als reines Trainingslager für den Mehrspielermodus betrachten. Im Multiplayer spielt der Titel nämlich seine wahren Stärken aus. Hat man sich einmal durch den Einzelspielermodus gekämpft, die Spielmechanik und die Einheiten verinnerlicht, kann man sich ins Schlachtengetümmel stürzen. Natürlich kann sowohl online spontan gezockt werden als auch mit mehreren Strategen auf dem heimischen Sofa.
Dabei macht der Onlinemodus besonderen Spaß. Es dauert in der Regel nur ein paar Sekunden, bis ein Gegner gefunden wurde und das Match beginnt – auf einer selbstverständlich zufällig generierten Karte. Da sich die beiden Parteien bis auf die Farbe der Kommandantenfahne völlig gleichen, starten beide Gegner auch grundsätzlich mit den gleichen Voraussetzungen. Bevor es losgeht darf jede Seite sechs Einheitentypen aus dem gesamten Portfolio auswählen, die für die Runde dann zur Verfügung stehen. Diese erste für das Match wegweisende Entscheidung ist bereits von strategischer Bedeutung, lässt sie doch schon Rückschlüsse auf den Spielertyp zu.
Sofort ein Angriffsrausch mit Kamikaze-Fröschen? Oder erst einmal etwas sparen, damit der Scharfschützen-Fuchs ausgebildet kann? Oder ganz andere Varianten?
Die Multiplayer-Runden in Tooth And Tail sind schnell (maximal 15 Minuten), fordernd und werden bereits mit den Entscheidungen in den ersten Minuten großflächig beeinflusst. Natürlich bekommt man in den ersten Matches vorrangig auf die Nase, aber es lohnt sich, dranzubleiben. Niederlagen können anhand von Replays noch einmal angeschaut und analysiert werden, um es beim nächsten Gegner besser zu machen. Mit der Zeit wächst die Routine, eigene Taktiken entwickeln sich und Erfolge stellen sich ein. Grundsätzlich macht sich in diesem Modus des Spiels stark bemerkbar, dass Tooth And Tail einfach zu lernen, aber gerade online gegen menschliche Gegner schwer zu meistern ist.
Stimmiges Design
Tooth And Tail ist komplett in einem pixeligen Stil gehalten, bei dem unweigerlich der Begriff „VGA-Grafik“ in den Sinn kommt. Anfangs ist das ungewohnt, bald hat man sich daran gewöhnt und noch etwas später schätzt man das etwas krümelige Erscheinungsbild. Die Menüs und Infopanels sind aber allesamt hochauflösend. Musikalisch ist Pocketwatch ein richtig guter Soundtrack gelungen. So hat jede der vier Fraktionen unterschiedliche Stücke, die auch abweichend voneinander instrumentalisiert wurden. Zudem nutzen die Parteien jeweils eine andere Fantasiesprache, die alle an das Gebrabbel der Sims erinnern. Dabei klingt die eine stark russisch (was die gedankliche Verknüpfung an die Russische Revolution provoziert), eine andere wiederum eher spanisch (da kommt Che Guevara in den Sinn).
Lässt man sich auf die krümelige Grafik ein, erlebt man ein konsequent durchdesigntes Spiel, das mit viel Liebe zum Detail gezeichnet und komponiert wurde. Dabei sollte man aber mindestens grundlegende Englischkenntnisse mitbringen. Das Spiel existiert nicht auf Deutsch und es wird gerne mal Slang gesprochen (wenn auch in Sprechblasen).
Fazit
Zunächst ist man von dem abstrakten Szenario irritiert, die krümelige Grafik mag spontan abschrecken und aufgrund der fehlenden Komplexität werden sich Hardcore-Strategen nicht angesprochen fühlen. Auf den zweiten Blick ist Tooth And Tail dann aber ein lupenreiner Multiplayer-Kracher, der Anfang der 2000er Jahre zwischen Starcraft und Age Of Empires eine große Rolle auf zahllosen LAN-Partys gespielt hätte.
Der schnelle Ablauf von Multiplayer-Matches, gepaart mit den Zufallskarten und der überschaubaren Spieltiefe, garantiert beste Unterhaltung nicht nur online, sondern auch mit mehreren Mitstreitern gemeinsam auf der Couch. Der Langzeitspaß ist vorhanden, muss aber differenziert beurteilt werden: Der Kampagnenmodus mit seinen 24 Missionen ist zügig durchgespielt, im Multiplayer wird das Spiel dann langfristig zur Spaßbombe, ohne aber an die altehrwürdigen Schwergewichte heranzureichen. Irgendwann werden die Online-Matches zu einer Art Mittagspausensnack, während man hungrig auf das Fünf-Gänge-Menü namens “”Age Of Empires 4″” wartet.
Dennoch stimmt vor allem das Preis-Leistungs-Verhältnis, und Spaß macht das Ding allemal. Ein paar Leute, Getränke nach Wahl, etwas Eingewöhnungszeit – schon sind die Party-Abende für Strategiezocker gerettet.