Vampyr im Test – Ein Nerd im Blutrausch

Das französische Studio Dontnod Entertainment ist in den letzten Jahren vor allem durch Life ist Strange bekannt geworden. Mit einer interessanten Story und einer guten Inszenierung haben die Franzosen sich einen Platz in die Herzen vieler Spieler erobert. Das Dontnod aber auch Gameplay können, haben sie bereits mit ihrem Debüt Titel Remember Me von 2013 unter Beweis gestellt. Das sind auf jeden Fall vielversprechende Voraussetzungen für einen neuen Titel. Ob Dontnod Entertainment ihre Stärken beider Spiele in Vampyr vereinen können?

Jonathan Reid – angesehener Chirurg, Gentleman und… Vampir

1918 kehren viele Soldaten aus dem 1. Weltkrieg in ihre Heimat zurück. So auch Jonathan Reid, welcher als Sanitätsoffizier der britischen Krone gedient hat. London leidet zum Ende des Krieges unter der Spanischen Grippe, welche die Stadt in einen Ausnahmezustand bringt. Gerade in London angekommen, wird Jonathan allerdings direkt von einem Vampir überfallen und so wacht der Mediziner mit einem ordentlichen Brand in der nächsten Leichengrube auf. Also gilt es aus der Grube heraus zu krabbeln und die neuen Zähne in den nächsten Hals zu rammen. Dumm nur, dass aus irgendeinem wirklich nicht nachvollziehbaren Grund Jonathans Schwester nach ihm gesucht hat und vom Bruder erst einmal wie eine reife Tomate ausgesaugt wird. Natürlich plagen Jonathan nach dem Abschwellen des Blutrausches und der Erkenntnis, dass er seine Schwester getötet hat, schwere „Gewissensbisse“. Sein Eid Leben zu bewahren und sein Durst nach Blut entfachen einen inneren Kampf, welcher im gesamten Spiel im Mittelpunkt steht. Kurz nachdem Jonathan geflüchtet ist, wird er vom leitenden Arzt Dr. Edgar Swansea des hiesigen Pembroke Hospital aufgenommen. In dem Wissen, dass Jonathan ein Vampir ist und ein führender Spezialist für Bluttransfusionstechniken, hoffen beide gemeinsam eine Lösung für die Seuche zu finden und mehr über das Wesen der Vampire herauszufinden.

All die kleinen Schäfchen

Im Krankenhaus selbst richtet sich der Arzt also ein Nest ein, löst Aufgaben und versucht die Lage des Krankenhauses zu verbessern. Wir lernen hier bereits einige Charaktere kennen. Und hier findet sich eine wirkliche Heerschar an kleinen Geschichten, die wirklich gut erzählt sind und auch politische Tabuthemen aufnimmt: Zwei Soldaten, die im Krieg zusammen verschüttet wurden und sich in einander verliebt haben, eine weiße Krankenschwester und ein dunkelhäutiger Rettungswagenfahrer, welche gemeinsam Patienten die Taschen ausnehmen. Liebschaften, welche heutzutage glücklicherweise keine Probleme mehr darstellen, 1918 aber nicht gerade Kavaliersdelikte waren. Die Geschichten werden glaubhaft erzählt und sind in sich stimmig. Toll, da merkt man einfach wo Dontnod Entertainment seine wirklichen Stärken besitzt. Der Eid unseres blutdürstenden Arztes verbietet es zwar Leben zu nehmen, dennoch liegt es in der Hand des Spielers, ob NPC’s für unseren Hunger in eine dunkle Ecke gelockt werden sollen. Und das Aussaugen der NPC’s stellt einen wichtigen Faktor für das Balancing des Spiels dar, dazu aber später mehr.

Das Dialogsystem ist durchaus bekannt. Wie auch schon in Life is Strange oder auch Spielen von Bioware haben wir ein Kreisdialogsystem, wo uns ab und an bestimmte Entscheidungen abverlangt werden, um dem NPC wichtige Informationen zu entlocken. Bei besonderen Entscheidungsmöglichkeiten müssen wir uns immer zwischen drei Fragen oder Antworten entscheiden, welche im Nachhinein auch nicht wieder zurückgenommen werden können. Hier ist Dontnod Entertainment konsequent mit den Entscheidungen, die wir treffen.

Ein herrlicher Jahrgang

Als Arzt kümmern wir uns um unsere Mitmenschen. Haben sie Krankheiten, können wir mittels unserer Vampirsinne schnell herausfinden, worunter sie leiden und ihnen eine entsprechende Medizin zusammenbrauen. Das erhöht nicht nur die Blutqualität, welche uns beim Aussaugen mehr EP gewähren, sondern stabilisiert auch den Gesamtzustand des Bezirks. Fällt der nämlich unter ein gewisses Limit, werden wir nicht mehr geduldet und man steht uns feindlich gegenüber, während der Bezirk vollends der Seuche zum Opfer fällt. Also an den Apothekerschrank und all die kleinen Mittelchen am besten auf Vorrat herstellen, um uns um unsere Schafe zu kümmern. Wir haben also zwei Gründe die Leute hier gut zu behandeln. Zum einen bleibt uns der Bezirk als sicherer Hafen erhalten und zum anderen können wir durch die hohe Blutqualität ein schnelles Opfer suchen, um einen EP-Boost zu erhalten. Und hier liegt auch die Crux im Balancing. Mir ist es durch das Charakterdesign meist schwer gefallen ein Schaf zur Schlachtbank zu führen und als ich glaubte, dass ich jemand gefunden hätte, den erstens keiner vermissen würde und zweitens ein schlechter Mensch ist, sollte mich auch hier das Spiel Lügen strafen. Ein kleiner Gauner, der zu alles und jedem unfreundlich ist, entpuppte sich nach seinem Ableben als sorgevoller Vater, welcher nur versucht hat, seinen kranken Sohn durch diese schwere Zeit zu bringen. Verdammt, damit habe ich nicht gerechnet. Entscheiden wir uns die Bewohner nicht zu opfern, erhalten wir nur durch normale Kämpfe EP-Punkte. Besiegte niedere Vampire, Lykaner oder Vampirjäger und andere Gegner geben zwar Erfahrungspunkte, aber bei weitem nicht so viel wie ein gut gepflegtes Schaf. Entscheiden wir uns also, uns nicht feindlich gesinnte NPC’s nicht auszusaugen, geraten wir schnell und ständig ins Hintertreffen gegen die aufkommenden Gegner und Vampyr wird so deutlich schwerer. Das wäre im Grunde noch in Ordnung, würde uns, dass etwas hakelige Kampfsystem nicht immer mal wieder einen Strich durch die Rechnung machen.

Das wirkt nämlich leider sehr unausgereift. Das System ist dabei durchaus bekannt: Lebenspunkte-, Ausdauer- und eine Blutleiste, die für die meisten RPG Spieler auch als Manaleiste bekannt ist. Jeder Hieb und jede Ausweichoption kosten Ausdauer, ist diese leer, sind wir wehrlos und können gefährlichen Angriffen nicht mehr ausweichen. Mit Fähigkeiten können wir deutlich mehr Schaden austeilen als mit unseren herkömmlichen Waffen. Zusätzlich können wir mit uns mit den Fähigkeiten auch heilen. Um die Blutleiste wieder aufzufüllen, ist es aber nötig, entweder unseren Gegner zu betäuben und zu beißen oder unsere Nahkampfwaffe gewährt uns für jeden Treffer ein wenig von dem roten Gold. Leider fühlen sich viele Animationen nicht so sauber an und auch das Trefferfeedback gibt einem das Gefühl, nicht immer alles richtig gemacht zu haben, obwohl man vermeintlich die richtigen Knöpfe gedrückt hat. Das führt leider dazu, dass das Kampfsystem zum großen Schwachpunkt des Spiels wird.

Quacksalber

Neben dem Hüten und besserem Kennenlernen unserer „Schafe“, der Jagd auf niedere Vampire und anderem Gewürm will Jonathan aber vor allem seinen unbekannten Schöpfer finden. Diese Suche führt in quer durch die Stadt und schaltet nach und nach neue Bereiche mit stärkeren Gegner frei. Um diesen wiederstehen zu können, heißt es nicht nur EP zu sammeln und unsere Fähigkeiten zu verbessern, sondern auch unser Waffenarsenal auszubessern. Die Entwickler geben uns aber nur selten neue Waffen und zwingen uns mit den gefundenen Herstellungsmaterialien diese zu verbessern. Am Schreibtisch, an dem wir auch unsere Arzneien herstellen, können wir auch unsere Waffen aufrüsten. Das Arsenal besteht aus Einhand- und Zweihand-Nahkampf Waffen, sowie Pistolen und Schrotflinten.

Die Unreal Engine 4 bekommt durch die offene Welt von Vampyr ganz schön zu tun. Dadurch verlängern sich Ladezeiten und wirken teilweise ein wenig deplatziert. Das Nachtleben von London 1918 wirkt leider sehr trist, hinzu kommt die geringe Abwechslung der Straßen Gaslichtlampen oder Mondschein. Ein tatsächlicher Tag/Nacht-Wechsel hätte der Immersion und Glaubhaftigkeit des Spiels durchaus gut getan, hätte es auch den negativen Aspekt des Daseins eines Vampires mit einbezogen. Allgemein fehlt es in Vampyr einfach an Abwechslung. Die Vielfalt der Gegner und die Gestaltung von London fallen eher mau und wenig abwechslungsreich aus. Und damit meine ich nicht diesen Discokugel-Effekt aus der Twilight Saga. Auch bei den Animationen der Gesichter hätte man sich ein wenig mehr Emotion gewünscht, diese ist nur selten zu erkennen und ist fast ausschließlich über die hervorragende englische Synchronisation zu erfassen. Ja genau, Vampyr ist komplett auf Englisch synchronisiert, hat aber deutsche Untertitel. Dennoch dürfte das für manch einen ein K.O.-Kriterium sein. Ich muss sagen, dass mir die englischen Synchronsprecher wirklich Freude bereitet haben. Jonathan mimt den akademischen Gentleman glaubhaft und auch die anderen Charaktere kommen hervorragend rüber. Soundgestaltung im Allgemeinen ist sehr gut und bringt eine gute Atmosphäre rüber.

Fazit

Dontnod Entertainment hat wiedermal unter Beweis gestellt, dass sie Geschichten erzählen können. Leider kann man das aber nicht vom Gameplay selbst behaupten. Die Hauptstory und kleinen Nebengeschichten machen aber vieles wett und haben mich über das gesamte Spiel hinweg motiviert weiter zu machen. Wer den Fokus lieber auf ausgewogenes und auf Hochglanz poliertes Gameplay legt, der sollte den Schatten von Vampyr wohl nicht betreten. Storyliebhaber dürfen sich hier aber durchaus der hypnotischen Wirkung des Jonathan Reid hingeben. Ein Titel, der zum Vollpreis wohl nur für absolute Liebhaber geeignet und im Sale für ein breiteres Publikum einen Blick wert ist.

Vampyr
Grafik/Präsentation
76
Story/Atmosphäre
87
Gameplay
73
Spielspaß
76
Leserwertung0 Bewertungen
0
78