The Last Guardian im Test – Der Haustier-Simulator 2016

„Was lange währt, wird endlich gut.“ Das dachte sich wohl auch das Entwicklerteam rund um Fumito Ueda. 9 Jahre mussten wir für The Last Guardian ausharren, doch jetzt ist es endlich soweit. Hat sich das Warten gelohnt? Erfahrt mehr dazu in folgendem Test.

Unser treuer Gefährte

Ein kleiner Junge wacht in einer spärlich beleuchteten Höhle auf. Wie er dorthin gekommen ist, wissen wir zuerst nicht. Sichtlich erschöpft rafft sich der Junge auf und findet voller Schreck dunkle Tätowierungen an seinem Körper und ein riesiges, katzenähnliches Wesen mit Federn, welches in Ketten gelegt, neben ihm liegt. Anfangs reagiert es spürbar aggressiv auf den Jungen. Wir schaffen es trotzdem uns zu nähern und es von seinen Ketten und in ihm steckenden Speeren zu befreien – der Beginn einer innigen Freundschaft. Fortan weicht uns Trico – so heißt unser riesiger Gefährte – nicht von der Seite und so müssen wir gemeinsam einen Weg aus der Höhle finden.

Zu Beginn müssen wir natürlich ein gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Wir fangen langsam damit an Trico anzudeuten, was wir von ihm möchten. Freundschaft basiert auf gemeinsamen Erlebnissen, welche wir in The Last Guardian zuhauf erfahren. Wir gehen mit Trico durch dick und dünn und retten uns nicht selten gegenseitig das Leben. Diese aufbauende Bindung führt im späteren Spielverlauf dazu, dass wir Trico gezielter Befehle geben können und er uns die Fässer aus der Hand frisst.

Ohne euer Spielerlebnis durch Spoiler zu trüben, kann man jedoch sagen, dass die grundlegende Frage – Wie wir denn in die Höhle gelangt sind? – beantwortet wird. Trotzdem lässt The Last Guardian auch nach Ende einige Fragen offen und viel Raum für Spekulationen.

Learning By Doing

Das Abenteuer rund um den kleinen Jungen und Trico wird in einer liebevoll gestalteten, detailreichen Spielwelt erzählt. Mal befinden wir uns auf einem Felsvorsprung und überblicken die riesigen Turm- und Ruinenkonstellationen. In einem anderen Moment springen wir durch verschachtelte Höhlen, die oftmals in uralte Tempel nahtlos übergehen.

Bei unserer Erkundungstour finden wir jedoch, anders als bei vielen anderen Adventurespielen, keine auffällig markierten Klettermöglichkeiten vor. Wir müssen den Weg durch viel Trial and Error mühselig selbst herausfinden, immer mit der Option im Hinterkopf, dass Trico uns helfen kann – wenn er denn will.

Auf diesem Weg treffen wir nicht nur auf statische Hindernisse. In einigen Bereichen erwecken wir durch Passieren mystische Rüstungen, die fortan versuchen, uns zu fangen und hinter einer blau schimmernden Türe einzusperren. Nur durch wildes Button mashing können wir uns befreien. Kämpfen können wir selbst allerdings nur in geringem Ausmaß. Das übernimmt Trico für uns, der mit seinen Krallen oder seinem Maul die Gegner liebevoll ins Jenseits befördert – eben so liebevoll wie ein Tiger seine Beute erlegt. Dennoch möchten wir bis zum Schluss, die Gegner selbst erledigen. Eine Möglichkeit bietet sich mit Hilfe eines kleinen Schildes an, welches wir zu Beginn in einer Höhle finden. Richten wir es auf Holztüren oder Rüstungen, schießt aus Tricos Schweif ein Blitz, der alles, was sich in seinem Weg befindet, zerstört. Doch verlieren wir dieses Schild nach kurzer Zeit auch wieder. Stattdessen bleibt uns oft nur die Option, Trico beim Zermalmen der Rüstungen anzufeuern – immer gepaart mit einem hilflosen Unterton beim Spieler.

Trotz alledem ist Trico das Highlight des Spiels und bekam von den Entwicklern die größte Aufmerksamkeit. Nicht nur äußerlich ist Trico ein Mischwesen aus Vogel, Katze und Hund – jede noch so kleine Feder wurde hier herausgearbeitet. Auch in seinem Verhalten finden wir viele Eigenschaften seiner real existierenden Kameraden. Wenn er sich auf einen Sprung vorbereitet, wird erst der Vorsprung fokussiert und anschließend durch zögerndes hin und her Tapsen der Hinterbeine signalisiert: „Ich springe gleich!“ Tricos Gefühlszustand wird häufig über seine Augenfarbe verraten. Pink deutet auf Angst und Wut. Gelb hingegen signalisiert, dass Trico Essen im Blick hat.

Das Charakterdesign, die Animationen und die Physik hinter Trico haben einen oftmals vergessen lassen, dass es sich hier nur um ein virtuelles Tier handelt. Aber auch ein virtuelles Tier besitzt ein Hungergefühl. So begeben wir uns oftmals auf die Suche nach leuchtenden Fässer, die wir ihm entweder vor die Füße legen oder direkt in den Schnabel werfen. Wenn wir das nicht machen, bleibt Trico störrisch sitzen und bewegt sich keinen Zentimeter – typisches Katzenverhalten also. Nach dem kleinen Festmahl erwischen wir uns oft dabei, dass wir Trico mit großzügigen Streicheleinheiten belohnen. Gleichzeitig ist man verzweifelt und frustiert, wenn er selbst nach 5–minütigem, dauerhaftem Befehle erteilen einfach nicht das macht, was wir von ihm verlangen. Nach einigen Stunden, wenn wir unsere Bindung zu Trico immer weiter festigen, sind solche Fälle jedoch seltener. Störrisch bleibt Trico aber bis zum Schluss.

Abgesehen von Trico

Bei dem offensichtlichen Fokus der Entwickler auf Trico und seiner Verhaltensphysik, die mit großer Wahrscheinlichkeit die meiste Zeit in Anspruch genommen hat, wird so manch anderer Aspekt vernachlässigt. Im direkten Vergleich wirkt der Junge unrealistischer und statischer als sein großer Tiergenosse. Fallanimationen haben häufig etwas von einer leblosen Puppe und an engen Felsvorsprüngen tapst er halsbrecherisch seitwärts entlang. Dies trübt den realistischen Eindruck des Spieleerlebnisses. Da wir den Jungen meistens von hinten sehen und er nur wenig Platz im Bild einnimmt – im Gegensatz zu Trico –, kann man aber darüber hinweg sehen, dass Texturen und das Gesicht sehr reduziert modelliert sind.

In den offenen Passagen, leidet der Detailreichtum oftmals an einer zu hohen und konstanten Helligkeit, die sich auch durch Anpassung im Menü nur minimal herunterschrauben lässt. Auch die reduzierte Farbigkeit der Umgebung in diesen Abschnitten, die manchmal durch knallgrüne Wiesen versucht wird aufzulockern, fördert das Empfinden, dass wir diese Ruinen doch zu einem früheren Zeitpunkt schonmal hinter uns gelassen haben. Diese Szenen wurden vermehrt in den Trailern gezeigt, welche zurecht die Kritik aufwarfen, dass es sich hier nicht um eine zeitgemäße PS4–Grafik handelt. Die Lichtstimmung glänzt dafür besonders in den dunklen Höhlen und Ruinen, welche nur durch Kerzenschein oder gebündeltes Licht – aus einem Loch in der Höhlendecke – beleuchtet wird. Hier entwickelt die Grafik ihr volles Potenzial. Auch wenn man über die nicht perfekte Grafik hinwegsehen kann, störten eine Menge an Clipping-Fehlern und massive Performance-Einbrüche in den offenen Passagen (in der von mir getesteten normalen PS4-Fassung).

Um von der Bindung zwischen dem Jungen und Trico in keinster Weise abzulenken, wurde auf einen durchlaufenden Soundtrack verzichtet. Ab und zu hören wir dennoch seichte Klänge eines Orchesters, die direkt die gewünschten Emotionen bei dem Spieler auslösen. Außerdem hören wir neben der hellen Stimme des kleinen Jungen – beim Befehle erteilen – eine weitere im Off. Diese gibt uns einige Hintergrundinformationen und hilft uns durch Tipps, wenn wir nach 20–minütigem Umherrirren immer noch nicht auf die Lösung des Problems gestoßen sind.

Der größte Frustfaktor

Solche Tipps folgen auch in Form von Pop–Ups in der oberen Bildschirmecke, die uns verraten, dass wir beispielsweise mit Kreis Gegenstände greifen können. Solche und andere Steuergrundlagen hat man bereits in den ersten Stunden verinnerlicht, auch wenn es anfangs ungewohnt war, mit Dreieck – anstatt mit Kreuz – zu springen. Dennoch werden diese einem bis zum Schluss immer wieder vor die Nase gedrückt. Viel interessanter ist aber, was The Last Guardian einem nicht beibringt.

Wir finden durch zufällige Tastenkombinationen – meistens beim panischen Button mashing mit den Rüstungen – neue, sehr hilfreiche Steuerelemente. Um den Rüstungen zu entkommen, können wir beispielsweise Ausweichrollen nutzen – beim Laufen Quadrat gedrückt halten. Und auch wenn Trico ein riesiges Wesen ist, kann es mal vorkommen, dass wir ihn einmal verlieren. Durch Halten von L1 können wir unsere Kamera jederzeit auf Trico fokussieren.

Hier kommen wir auch schon zum größten Frustfaktor, den The Last Guardian zu bieten hat – die Kamera. Wir können uns durch eine vorgegebene Kameraführung leiten lassen oder diese selbst übernehmen, um beispielsweise Abgründe besser einschätzen zu können. Wenn wir uns in engen Tunneln auf Trico fortbewegen, hat die Kamera mit einem idealen Bildausschnitt zu kämpfen. Entweder finden wir uns selbst in Tricos Federkleid nicht wieder oder sehen aus einem anderen Winkel sein hohles Inneres. Dies führt häufig dazu, dass wir eben genannte Abgründe nicht sehen und ungebremst in den Abgrund stürzen.

Fazit

Die lange Entwicklungszeit und der Hype um The Last Guardian führten mich skeptisch an das Spiel heran. Die anfängliche Dichte an Frustmomenten ließ nicht viel hoffen und die Grafik sowie die Performance befinden sich ebenso eher im Mittelmaß. Trotzdem erinnere ich mich im Nachhinein nur an die schönen Momente des Spiels. Trico und die Beziehung zu dem kleinen Jungen sind hier definitiv der Star der Geschichte. Ich bin froh, mich bis zum Ende tapfer durchgekämpft zu haben – trotz Frust und Ärger über Trico und die Rüstungen. Denn ich werde mit dem herzergreifensten Ende belohnt, welches ich bisher gesehen habe. Ja, es flossen viele Tränen. Wäre das anhaltende Steuerungs- und Kameraproblem bei den Entwicklern von Shadow of the Colossus und ICO bei diesem Spiel nicht der Fall, wäre The Last Guardian meiner Meinung nach ein nahezu perfektes Spieleerlebnis. Und jetzt weiß ich auch, wie es sich anfühlen muss, ein Haustier zu besitzen. Man sieht aufgrund von Liebe für das Tier gerne mal über die Frustmomente hinweg.

The Last Guardian
Grafik/Präsentation
82
Story/Atmosphäre
92
Gameplay
65
Spielspaß
88
Leserwertung0 Bewertungen
0
82