Nier Replicant ver. 1.22474487139… im Test – Ein Nerd im Remaster Story Himmel

Mit Nier Replicant bringt Square Enix ein Remaster des, ursprünglich im Jahr 2010 für PS3 und Xbox 360 erschienenen, Vorgängers zu Nier Automata zur aktuell wohl ausgehungerten Gaminggemeinde. Das aktuelle Weltgeschehen und die Verkaufszahlen für Spiele und Hardware gleichermaßen könnten der ideale Zeitpunkt sein, um die Nier Reihe auch Serienneulingen schmackhaft zu machen. Doch kann das Remaster (gameplay) technisch überzeugen? Auch wenn man bereits eine „Nextgen“ Konsole wie die PlayStation 5 oder die Xbox Series X/S daheim hat?

Grafikzeitreise

OK, zugegeben: die Optik von Nier Replicant (2021) sticht einem irgendwie schmerzhaft ins Auge. Das Original stammt aus dem Jahr 2010 und das Remaster läuft, auch dank Abwärtskompatibilität im Jahr 2021, nicht nur auf der Xbox One und der PlayStation 4, sondern auch auf PlayStation 5 und Xbox Series X/S. Wirkliche Vorteile scheint das aber nicht zu bringen. Übrigens lautet der volle Titel des Remasters „Nier Replicant ver. 1.22474487139…“. Nier Replicant ist eigentlich ein Spin-off zur Spielreihe Drakengard gewesen, wovon ein Ende eines Serieneintrages im Grunde die Ausgangslage für das Intro/Tutorial von Nier Replicant bildet. Aber das ist eine Geschichte, die in zahlreichen YouTube Videos besser erzählt wird, als dass es hier in einem Review gerade Sinn zu machen scheint. Grafisch gibt es nun statt grünen Bodentexturen auch Grashalme, bessere Beleuchtung und die üblichen höher aufgelösten Texturen und insgesamt mehr Grafikdetails. Aber auch zahlreiche und wenig animierte Klon-NPCs und ein paar Hunde, Katzen und andere Tiere. Nichts davon kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Remaster handelt und damit weit entfernt ist von einem Remake wie zuletzt beispielsweise Demon Souls oder Shadow of the Colossus. Und trotzdem transportiert die gesamte Präsentation die Stimmungen und Atmosphäre der leider immer noch sehr leeren Spielwelt hervorragend, die als Bühne der spannenden und interessanten Geschichte dient.

Die Geschichte wird mit fantastischen, wenn auch nur auf Englisch vertonten, Dialogen erzählt und auf Wunsch mit deutschen Untertiteln ergänzt. Die Dialoge wurden übrigens für das Remaster mit den Originalsprechern neu aufgenommen und auch der tolle Soundtrack wurde überarbeitet. Gleichzeitig wurde das ursprüngliche Kampfsystem angepasst und ist damit sehr nah an dem, was Spieler von Nier Automata bereits kennen. Die Ausgangslage ist die, dass wir als Bruder nach einer Heilung für unsere kranke Schwester suchen und erleben dabei zahlreiche Abenteuer. Das Spiel beginnt mit unserem Charakter in den Ruinen einer Großstadt, Monster greifen an und unsere Schwester ist krank. Zeitsprung: ca. 1.500 Jahre und 15 min. Tutorial-Gameplay später. Sind wir der gleiche Charakter? Ist unsere Schwester das gleiche Mädchen mit der gleichen Krankheit wie vor 1.500 Jahren? Was ist hier bloß los? Aus Spoilergründen möchte ich auf die Geschichte gar nicht weiter eingehen. Sie wird in zahlreichen Dialogen erzählt, in Zwischensequenzen und im Rahmen der Quests. Und um die Geschichte komplett verstehen zu können, ist es nötig die verschiedenen Enden zu erleben. Dabei müsste ihr nicht das gesamte Spiel erneut spielen, sondern ungefähr das letzte Drittel in einer Art New Game Plus, wo ihr alle Fähigkeiten und Gegenstände behaltet. So entfaltet sich nach und nach, wie in einer Art Rätsel oder Puzzle, die gesamte Geschichte. Rund um Familie, Krankheit und der Frage, was mit der Welt eigentlich passiert ist, in der wir überall Überreste, wie Ruinen, von unserer heutigen realen Welt entdecken. Oder doch von einer anderen, unserer nur sehr ähnlichen Welt?

Die Feder ist genauso mächtig wie das Schwert!

Im Nahkampf greift unser Charakter, dem wir einen eigenen Namen geben können, mit verschiedenen, ausrüst- und aufrüstbaren Waffen an. Leichter Angriff, schwerer Angriff und wenn wir die jeweilige Angriffstaste gedrückt halten werden verkettete Waffenschläge ausgelöst. Wir können Gegner anvisieren und bei größeren Gegnern zwischen mehreren Angriffspunkten wechseln. Es handelt sich also im Grunde um ein klassisches Nahkampfsystem. Mit einem Tastendruck können wir das Kampfgeschehen pausieren und Gegenstände, z.B. zur Heilung oder Erhöhung unserer Verteidigung, einsetzen. Abseits der Waffen und der Möglichkeit diese Waffen durch Upgrades in der Stufe zu erhöhen und Schadenswerte sowie die Magieeffekte zu erhöhen, gibt es keine Item-Verwaltung. Also ihr könnt z. B. keine unterschiedlichen Rüstungen oder dergleichen finden und anziehen, seid also auf die insgesamt ca. 30 Waffen im Spiel beschränkt. Rüstungen machen in der Welt von Nier wohl auch keinen Sinn, wenn man bedenkt, dass ein NPC in Unterwäsche kämpft, was übrigens von unserem Charakter auch skeptisch kommentiert wird. Die Waffen unterscheiden sich bei Schadenswerten, ihrer Optik und der Angriffsgeschwindigkeit.

Doch es gibt auch Fernkampf in Form von Magie, nämlich mit Grimoire Weiss, dass ihr zwar zu Spielbeginn in den ersten 15 Minuten schon einsetzen, dann aber erst etwas später im Spiel dauerhaft erlangen könnt. Spieler von Nier Automata erkennen in Grimoire Weiss den Gameplay-Vorgänger des Bots aus Automata. Das vorwitzige, oftmals freche und eingebildete Buch schwebt also immer neben euch und ermöglicht euch über die Schultertasten verschiedene magiebasierte Fernkampfangriffe.

Diese zehren an der blauen Magieleiste, die sich durch erfolgreiche Nahkampftreffer wieder füllt aber auch, wenn ihr mit eurer Nahkampfwaffe gegnerische Magiegeschosse zerstört. Im Spielverlauf findet ihr verschiedene Magieangriffe, die ihr im entsprechenden Menü ausrüsten könnt. Durch gefundene “Wörter”, die als Perks dienen, könnt ihr sowohl Magie als auch eure Waffen verstärken.

Doch leider ist die Kamera manchmal ein Ärgernis in den schnellen Kämpfen, die sich durch leichtes Nachjustieren zwar durchaus anpassen lässt, aber dennoch hat man trotz LockOn oft einige Gegner und auch ihre Fernkampfangriffe nicht im Blick und wird quasi außerhalb der Kamera getroffen. Dank üppiger Lebensleiste, zahlreicher Heilungsmöglichkeiten und drei verschiedener Schwierigkeitsgrade ist das Spiel aber trotz hakeliger Kamera für jeden Spielertyp schaffbar. Auf dem unteren Schwierigkeitsgrad gibt es sogar den sogenannten „Autokampf“, der zusätzlich aktiviert werden kann und in Kämpfen im Grunde alles Wichtige für Spieler übernimmt. Und bei den zahlreichen, toll inszenierten und sehr abwechslungsreichen Bosskämpfen treten die genannten Kameraprobleme glücklicherweise nicht auf. Wichtig ist dabei, dass es kein automatisches und auch kein jederzeit verfügbares Speichersystem gibt. Speichern ist nur an roten Briefkästen in der Spielwelt möglich. Solltet ihr doch einmal das Zeitliche segnen, landet ihr wieder an der Stelle nach dem letzten Ladebildschirm oder müsst den letzten Spielstand laden. Die leider zahlreichen Ladebildschirme sind, zumindest im Test auf der Xbox Series X, jeweils nur kurz zu sehen.

Gameplay aus 2010 & Ausgleich durch Geschichten?

Kenner des Originals freuen sich über neue Inhalte, wie z. B. eine Questreihe rund um ein Schiffswrack. Leider lässt die Gegnervielfalt zu wünschen übrig. Sehr schnell hat man alle Gegnertypen schon einmal gesehen. Abseits der genial gestalteten und zumeist mehrstufigen Bosskämpfe zumindest. Die erfordern den geschickten Einsatz von sowohl Nahkampf als auch Magie und darüber hinaus die Berücksichtigung spezieller Gegebenheiten der jeweiligen Arena. So ist ein Boss z. B. nach der ersten Phase nicht mehr verwundbar, außer wir weichen durch geschickte Sprünge seinen Energiestrahlen aus und heben im richtigen Moment eine Bombe auf, die es in sein offenes Maul zu werfen gilt. Die Zeit zwischen Kämpfen und Bosskämpfen verbringt ihr im Spiel mit der Annahme und der Erledigung von Quests. Oder sollte ich eher dem Abarbeiten von optionalen Nebenquests sprechen? Denn “hole X und bringe es zu Y” Quests sind jetzt nicht gerade die Krönung dessen, was beim Spielen die zur Erledigung notwendige Motivation erzeugt. Aber diese Quests bringen einerseits Gold für neue Waffen, Upgrades und Gegenstände ein, andererseits erzählen die Nebenquests meist auch interessante kleine Geschichten. Oder schalten nach ihrer Erledigung neue Aktivitäten und Möglichkeiten frei, wie z. B. das Reiten auf Wildscheinen zur Verkürzung der zahlreichen und sich ständig wiederholenden Laufwege, das Angeln oder das Bestellen des eigenen Feldes.

Und auch im Rahmen der Quests aber auch in der Hauptgeschichte wechselt das Spiel in den Actionpassagen immer wieder, und das nahtlos ohne Ladezeiten, das Genre. Da wird das Spiel mal zum 2D-Jump-and-Run oder zum Diablo-Klon. Auch eine Prise Bullethell darf nicht fehlen. Im direkten Vergleich ist die Abwechslung in Nier Automata zwar deutlich größer und findet dort auch viel häufiger statt aber dafür ist das aus dem Jahr 2017 stammende Automata eben auch die Fortsetzung und Weiterentwicklung der in Nier Replicant 2010 begründeten, teils fast schon nur angedeuteten, Mechaniken.

Immer wieder gilt es auch kleine Rätsel zu lösen. Z. B., wenn das Spiel sich in ein Textadventure verwandelt oder Kisten geschoben werden müssen, um den Weg freizumachen. Oder bestimmte Gameplaymöglichkeiten plötzlich verboten sind, wie z. B. das man in einem Abschnitt nicht mehr springen oder laufen darf und sich dann erstmal selber zusammenreimen muss, dass man sich ja auch durch Angriffe fortbewegen kann.

Fazit

Nier Replicant ist ein absolutes Muss für Fans besonderer Geschichten, so wie ich einer bin. Ich hatte mit Nier Automata, meiner ersten Begegnung mit der Reihe, sehr viel Spaß, habe es platiniert auf der PlayStation 4 und alle Enden gesehen. Im direkten Vergleich mit seinem Nachfolger, den ich eben zuerst gespielt habe, zieht das Remake Nier Replicant ganz klar den Kürzeren: ständig die gleichen, wenn auch kurzen Laufwege, eintönige Fetch-Quests kombiniert mit der zwar aufgehübschten und mit, zumindest gefühlten 60fps, sehr flüssigen aber hoffnungslos veralteten Optik hauen 2021 niemanden mehr vom Hocker. Warum ich trotzdem sehr viel Spaß mit dem Spiel hatte? Weil es eine spannende und vielschichtige Story erzählt und auch in seinen Nebenquests interessanten Geschichten für die Spieler bereithält, die sich auf das langweilige Gameplaygerüst der Quests einlassen. 10x Hammelfleisch besorgen verlangt den Spielern nichts ab, die Geschichte die bei dieser Quest erzählt wird oder aber die neuen Gameplaymechaniken, die man durch erledigen eben dieser Quest freischaltet, sind aber ein erlebenswerter Lohn für diese Arbeit. Nur ob man sich darauf einlässt, hängt wohl davon ab, welcher Spielertyp man ist. Wer Zwischensequenzen und Dialoge lieber weggeklickt und sich auf das Gameplay konzentriert wird mit Nier Replicant wohl nur wenig Freude haben. Dafür überzeugt das Gameplay trotz der eingestreuten Abwechslungen über die Spielzeit von ca. 30 h bis zum ersten Ende nicht genug. Die Kombination aus Kämpfen, Geschichten und den tollen und spannenden Charakteren, allen voran Grimoire Weiss gepaart mit der genialen Vertonung der Charaktere und der atmosphärischen Musik ließen in mir den Wunsch aufkeimen, auch die anderen Enden zu erleben und das Puzzle der Geschichte in Nier Replicant zusammenzusetzen. Schade, dass ich das Spiel auf der PS3 damals verpasst habe. Denn dann hätte ich Nier Automata wohl auch schon viel früher gespielt! Nier Automata und Storyfans schlagen zu! Wer sich von den Kritikpunkten abschrecken lässt und auf ein Story-Highlight verzichten kann, greift besser zu Nier Automata. Wer dann Blut geleckt hat, sollte Nier Replicant dann aber trotzdem noch nachholen.

Nier Replicant ver. 1.22474487139…
Präsentation (Grafik, Sound)
73
Story, Atmosphäre
87
Gameplay
77
Spielspaß
82
Pros
tolle, wendungsreiche Geschichte
toller Soundtrack
sehr gute Englische Vollvertonung aller Dialoge
actionreiche Kämpfe
Einsteigerfreundlich Dank "Autokampf"-Feature auf Schwierigkeitsgrad leicht
Cons
eintöniges Questdesign
viel Backtracking
keine deutsche Sprachausgabe
angestaubte Technik
80